Das Institut für hymnologische und musikethnologische Studien: Rückblick und Ausblick
Vortrag von Prof. Dr. Rüdiger Schumacher beim Studienwochenende der CIMS und ihres Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien an der Universität zu Köln vom 29. bis 31. Oktober 2004 in Köln, veröffentlicht in Musicae Sacrae Ministerium 2004-2007, CIMS Rom 2021, S. 112-118.
Mein heutiger Beitrag, in dem ich Ihnen das Institut für hymnologische und musikethnologische Studien vorstellen und näherbringen möchte, soll nicht in erster Linie eine detaillierte Rückschau auf geleistete erfolgreiche Forschungsarbeit gewähren, sondern gerade angesichts der durchaus bedrückenden Ereignisse der letzten beiden Jahre insbesondere die zukünftigen Arbeiten und Herausforderungen näher in Erwägung ziehen. Dabei scheint es mir jedoch geboten, gerade angesichts dieser Ereignisse in klaren Worten die Entstehungsgeschichte und die hiermit verbundene Aufgabenstellung und Zielsetzung Ihnen allen deutlich in Erinnerung zu rufen.
Bereits im ersten Jahr seines Pontifikates rief Papst Paul VI. am 22. November 1963 die Consociatio Internationalis Musicae Sacrae als weltumspannende internationale Vereinigung von Fachleuten auf dem Gebiet der Kirchenmusik ins Leben. Am selben Tag stimmten die versammelten Konzilsväter in der Aula von St. Peter über den Text der ersten Konstitution des II. Vatikanischen Konzils, der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium ab. Die Koinzidenz dieser Ereignisse – zumal am Fest der hl. Caecilia, der Patronin der musica sacra – kann zweifellos nicht als zufällig angesehen werden; dies hieße das Prinzip des Zufalls überstrapazieren.
In dieser Koinzidenz spiegelt sich die besondere Wertschätzung der Kirche den Traditionen ihrer liturgischen Musik gegenüber, eine Wertschätzung, die der Text der Liturgiekonstitution durchgängig in klaren Worten zum Ausdruck bringt, auch wenn in den Formulierungen so mancher ihrer volkssprachlichen Kommentierungen dem leider nicht immer entsprechend Rechnung getragen wird. Bisweilen erscheinen diese Aussagen dort stellenweise geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Man mag sich angesichts dieser bereits während der Verhandlungen um den Konstitutionstext sich abzeichnenden Entwicklungen fragen, ob es vielleicht kluge Voraussicht des Papstes war, den nicht wenigen Gegnern der musica sacra mit der Consociatio gleichsam ein „Schutz- und Wächteramt“ auf dem Fundament der Autorität des Hl. Stuhles entgegenzusetzen.
In der Gründungsurkunde der Consociatio, dem päpstlichen Chirographen Nobile Subsidium Liturgiae wird als eine der zentralen Motivationen für die Gründung und eines der herausragenden Arbeitsziele dieser neuen Organisation die schwierigste und wichtigste Frage der musica sacra in den außereuropäischen Gebieten, insbesondere in den Missionsländern genannt. Ausgangspunkt dieser Bemühungen und bleibende Orientierung bildet hierbei der Text der Liturgiekonstitution, wo es in dem Ihnen allen bekannten Artikel 119 heißt:
„Da die Völker mancher Länder, besonders in der Mission, eine eigene Musiküberlieferung besitzen, die in ihrem religiösen und sozialen Leben große Bedeutung hat, soll dieser Musik gebührende Wertschätzung entgegengebracht und angemessener Raum gewährt werden, und zwar sowohl bei der Formung des religiösen Sinnes dieser Völker als auch bei der Anpassung der Liturgie an ihre Eigenart, im Sinne von Artikel 39 und 40.“
In diesen beiden genannten Artikeln 39 und 40 wird nun ausdrücklich auf die mancherorts tiefgreifende und deswegen schwierigere Anpassung der Liturgie und die dabei zu beachtenden Grundsätze hingewiesen:
„Weil vor allem in den Missionsländern die Anpassung liturgischer Gesetze besondere Schwierigkeiten mit sich zu bringen pflegt, sollen bereits bei der Abfassung der Gesetze Sachverständige aus dem betreffenden Fachgebiet herangezogen werden.“
Diesen grundsätzlichen Fragen widmete sich dann vom 14. bis 22. November 1975 in Rom das erste musikethnologische Symposion der Consociatio Internationalis Musicae Sacrae. Die dort versammelten Musikforscher und Experten aus 16 Ländern berieten eingehend über Möglichkeiten und Probleme der Anpassung, auf der Suche nach grundlegenden Maßstäben für die Verwirklichung des Konzilswillens. Dabei näherten sie sich dem Thema von zwei Seiten: einerseits aus der Perspektive der Methodik allgemeiner und umfassender Erforschung außereuropäischer Musikkulturen, wie sie sich in der wissenschaftlichen Disziplin der Musikethnologie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte, und andererseits aus der Perspektive der Missionsländer, deren Vertreter über zahlreiche praktische Erfahrungen der Übertragung indigener Musikelemente in die Liturgie und den damit verbundenen Problemen zu berichten wussten. Die Zusammenfassung der intensiven Beratungen, deren Leitgedanken – ungeachtet einer gewiss zeitbedingten Gewichtung und Formulierung – für die Forschungsmethodik auf diesem Gebiet durchaus noch heute Gültigkeit beanspruchen können, mündete in das einmütige Votum der Kongressteilnehmer für die Errichtung eines Zentralarchivs für musikethnologische Studien, dem die Sammlung und die wissenschaftliche Erforschung und Auswertung von Dokumenten der indigenen Musiktraditionen aus den Ländern der Welt, insbesondere dem Missionsländern, im Sinne der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils obliegen sollte.
Nach einem Jahr intensivster Verhandlungen mit Experten, mit verschiedenen kirchlichen Instanzen und anderen Institutionen erfolgte dann am 10. Januar 1977 die Gründung eines in Köln eingetragenen Vereins mit dem Namen „Institut für hymnologische und musikethnologische Studien“.
In der Gründungsschrift dieses Instituts mit dem aus dem genannten Chirographen Pauls VI. entnommenen Titel „Missionariis Auxilium“ umreißt der Initiator und langjährige Vorsitzende des Instituts, der vor zwei Jahren verstorbene Johannes Overath, die wissenschaftliche Arbeit dieses Instituts, die sich gemäß den Weisungen des II. Vatikanischen Konzils in drei Kernbereichen vollzieht:
Erstens in der Sammlung und wissenschaftlichen Erforschung der hymnologischen Quellen in den Ländern mit europäischer oder – so wird man sinngemäß ergänzen müssen – mit von europäischen Traditionen befruchteter Volkskultur. Im Mittelpunkt dieses Arbeitsbereichs steht die Beteiligung des Instituts an dem seit den 1960er Jahren verfolgten monumentalen Editionsvorhaben „Das deutsche Kirchenlied“. Im Rahmen dieses Projekts zeichnet der stellvertretende Vorsitzende unseres Instituts, der emeritierte Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich Max Lütolf, verantwortlich für die auf acht Bände veranschlagte Edition der II. Abteilung, welche die „Geistlichen Gesänge des deutschen Mittelalters, Melodien und Texte handschriftlicher Überlieferung bis um 1530“ zum Gegenstand hat. Ziel dieser Edition ist es, das breitgefächerte geistliche Repertoire mittelalterlicher, volkssprachiger Sangeskunst deutscher Zunge so vollständig wie möglich zu erfassen, mit den Methoden interdisziplinärer Forschung zu erschließen und den vielfältigen Erscheinungsformen adäquat, aber unter einheitlichen editorischen Gesichtspunkten zu transkribieren und zu kommentieren. Der eigentliche Anlass unserer heutigen Zusammenkunft ist es, die Publikation der ersten drei Bände dieser Edition, die für die europäische Musikgeschichtsschreibung zweifellos umwälzende Erkenntnisse bereithält, einer größeren Fachöffentlichkeit bekannt zu geben und die damit verbundene wissenschaftliche Leistung gebührend zu würdigen. Näheres werden Prof. Lütolf und sein – wie er ihn bisweilen nannte – „germanisches Gewissen“, Prof. Schiendorfer, die ich beide hier besonders herzlich begrüßen möchte, in ihrem gemeinsamen Vortrag erläutern.
Dem Namen unseres Instituts entsprechend konstituiert den zweiten Arbeitsbereich die Durchführung und Förderung musikethnologischer Forschungen, insbesondere in denjenigen Kulturen, die wir unter einer eurozentrischen Perspektive allzu pauschal als außereuropäische zu bezeichnen gewohnt sind. Zu den vielfältigen Aufgaben zählen hier das Sammeln von Dokumenten verschiedenster Art: Schallaufnahmen, Musiknotationen und andere Niederschriften, Berichte, Beschreibungen und Aussagen kompetenter Gewährsleute. Unter Anwendung eines zeitgemäßen wissenschaftlichen Methodenrepertoires werden diese Quellen sorgfältig und ausgewogen untersucht. Neben der analytischen Betrachtung der von außen her erfassbaren Beschaffenheit der Musik als klingendes Phänomen wird in besonderem Maße die Beurteilung der Musik durch die einheimischen Musiker, Musikkenner und Zuhörer als von zentraler Bedeutung für ein adäquates Verstehen angesehen. Daneben steht vor allem ein Bereich von entscheidendem Gewicht, dem man in der jüngeren Musikethnologie bisweilen als die „Funktion“ von Musik tituliert hat. Wegen seiner Vieldeutigkeit mag dieser Funktionsbegriff etwas unglücklich gewählt sein; es handelt sich hier nämlich nicht um die Funktion im Sinne mathematischer Automatik und Zwangsläufigkeit, und es geht auch nicht so sehr vordergründig um den Gebrauchswert und den Gebrauchskontext verschiedener musikalischer Ausdrucksweisen in einer Kultur, sondern vielmehr um ihre Wirkung, die mit ihr verbundene Wirkabsicht, ihren geistigen Sinn schlechthin. Da es bekanntlich keine geschichtslosen Kulturen gibt, gehört zu den vielfältigen Forschungsaufgaben unseres Instituts weiterhin auch die wichtige Frage nach den historischen Veränderungsprozessen musikalischer Überlieferungen in den verschiedenen Regionen der Welt, wie sie sich in den Schriftzeugnissen und der mündlichen Tradition eines indigenen Geschichtsbewusstseins manifestiert. Die Resultate dieser Forschung stehen im Rahmen unseres inzwischen zu einer stattlichen Reihe von 16 umfangreichen Bänden angewachsenen Institutsjahrbuchs „Musices Aptatio“ der Öffentlichkeit zur Verfügung.
In einem dritten, der musikethnologischen Forschung im engeren Sinne durchaus verbundenen Arbeitsbereich unseres Instituts soll den Beziehungen zwischen einer regional- und kulturspezifischen Musica indigena einerseits und einer als allen Völkern gemeinsam erachteten christlichen Musik, vor allem dem Gregorianischen Choral, besonderes Interesse entgegengebracht werden.
Über die Veröffentlichung der eigentlichen Forschungsergebnisse im Jahrbuch hinaus hat das Institut in den zurückliegenden Jahren insbesondere durch die Organisation, Durchführung und Beteiligung an internationalen wissenschaftlichen Tagungen und Symposien eine weitere Verbreitung seiner Forschungsresultate betrieben und dabei im Gedankenaustausch und in der Zusammenarbeit mit musikalischen Fachleuten aus aller Welt wertvolle Anregungen gegeben wie auch selbst empfangen.
Dieser in der Vergangenheit bewährten und von zahlreichen Persönlichkeiten und Institutionen geschätzten fruchtbaren Wirkung unserer Institutionsarbeit ist nun durch die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre ein schwerer Schlag versetzt und gleichsam die materielle Grundlage entzogen worden: Wenige Monate nach dem Tode von Johannes Overath und wenige Tage vor der alljährlichen Mitgliederversammlung unseres Instituts wurden der Schatzmeister Udo Volberg und ich als Vorsitzender zu einem Gespräch beim Verband der Diözesen Deutschlands gebeten, in dem uns Pater Langendörfer, der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz mitteilte, dass der Verband beschlossen habe, die finanzielle Unterstützung des Instituts zum 1. Januar 2004 einzustellen und für 2003 lediglich einen für die „Abwicklung“ des Instituts zweckgebundenen Betrag zur Verfügung zu stellen. Insbesondere wurde uns dringend nahegelegt, den Arbeitsvertrag mit unserem verdienten langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Dr. Bispo, noch vor Jahresende 2002 aufzukündigen und darüber hinaus alle notwendigen Schritte zur Auflösung des Vereins und zur Übertragung des Vereinsvermögens an den Verband der Diözesen Deutschlands schnellstmöglich in die Wege zu leiten. Ungeachtet der Tatsache, dass wir in die Beratungen, die zum Beschluss des Verbandes geführt hatten, weder einbezogen noch auch nur in den Anfangsphasen dieser Überlegungen angehört worden waren, ist hier nicht der rechte Ort, den auf uns als ehrenamtlich, also unbezahlt Tätigen lastenden Druck der vergangenen zwei Jahre in allen z.T. äußerst unangenehmen Details zu schildern. Dies kann im Rahmen einer minutiösen schriftlichen Dokumentation zu gegebener Zeit erfolgen.
Die gegenwärtige Lage des Instituts stellt sich folgendermaßen dar: Herr Dr. Bispo ist seit dem 31. Juli 2003 nicht mehr als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts tätig. Das Haus der Kirchenmusik in Maria Laach musste als Forschungsstätte des Instituts aufgegeben werden, da als unrealistisch anzusehen ist, die benötigten Mittel für Miet- und Heizkosten allein aus Spendenbeträgen zu bestreiten. Die Bibliotheksbestände wurden nach genauster Sichtung und Überprüfung der Eigentumsverhältnisse aufgeteilt und inzwischen abtransportiert. Dabei soll das – an Zahl und Umfang eher geringere – Eigentum des Instituts künftig in den Räumen der ehemaligen Musikschule Prof. Heck in der Dürener Straße nahe dieser Universität aufgestellt werden. Da die Räumlichkeiten noch nicht ganz in bezugsfertigem Zustand sind, haben wir die Bestände zwischenzeitlich eingelagert. Wir hoffen aber, dass in Bälde eine Aufstellung und damit eine – wenn auch deutlich eingeschränkte – wissenschaftliche Nutzung der Institutsbestände in neuer Umgebung realisiert werden wird. Durch eine zwischenzeitlich erfolgte Satzungsänderung konnte die Fortexistenz des Instituts als e.V. sichergestellt werden. Die Realisierung wissenschaftlicher Arbeit wird sich jedoch künftig in noch stärkerem Maße als bisher auf das Prinzip der ehrenamtlichen Eigeninitiative und auf finanzielle Zuwendungen in Form von steuerabzugsfähigen Spenden stützen müssen.
Wenn wir nun einen Blick auf diese vor uns liegenden Aufgaben und Herausforderungen werfen, so könnte man zunächst unwillkürlich versucht sein, angesichts der weltumspannenden Weite unseres Arbeitsgebietes, angesichts der in einem stetigen Wechsel von Entstehen und Vergehen befindlichen, nach menschlichen Maßstäben unüberschaubaren Vielfalt musikalischer Stile und Traditionen und der Vielzahl von Sprachen, mit denen unsere Forschungsbemühungen konfrontiert werden, mutlos zu resignieren. Muss man aber nicht – vor allem angesichts der derzeit verfügbaren, personellen und finanziellen Ressourcen – vor der unerfüllbar erscheinenden Vision, die sich im Auftrag des Konzils an dieses Institut widerspiegelt, zwangsläufig kapitulieren? – Nun, als Wissenschaftler haben wir gelernt, mit unerfüllbaren Ansprüchen an das Erkenntnisvermögen zu leben. Denn selbst kleine Fortschritte im Erkennen und Verstehen sind wertvoll, sofern sie mit der erforderlichen Sorgfalt und Genauigkeit erreicht worden sind.
Es ist hier und heute nicht die geeignete Gelegenheit, über erst angedachte, auf längere Sicht geplante konkrete Forschungsvorhaben zu referieren. Meine abschließenden Ausführungen beziehen sich vielmehr auf die aktuellen Herausforderungen an eine grundlegende Forschungsmethodik. Diese eben angesprochene, auch von unseren künftigen wissenschaftlichen Vorhaben geforderte Sorgfalt und Genauigkeit der Betrachtungsweise wird uns ein weiter gesteigertes Differenzierungsvermögen abnötigen. Ich will dieses abschließend in zwei Perspektiven kurz skizzieren, zwei Perspektiven, die ich – einer griffigen Formulierung zuliebe – die historische Perspektive und die kulturelle Perspektive nennen möchte.
1. Die historische Perspektive: Es mag banal klingen, diese Tatsache auszusprechen, aber wir alle wissen, dass die Völker der Welt zu ganz verschiedenen Zeiten mit dem Christentum in Berührung gekommen sind. Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung und Herkunft, unterschiedlichen Bildungsgrades, unterschiedlichen Charakters haben diesen Völkern den christlichen Glauben vermittelt und dabei einen ganz verschiedenen, bleibenden oder nur kurzzeitig wirksamen Eindruck hinterlassen. Dieses Faktum müssen wir in unserer musikethnologischen Forschungsarbeit in gebührendem Maße berücksichtigen. Das bedeutet: So manches von dem, was uns an der Oberfläche zunächst als Ausdrucksform einer indigenen, von außen nicht oder nur gering beeinflussten, gewissermaßen unberührten, „authentischen“ musikalischen Überlieferung erscheint, erschließt sich bei genauer Betrachtung als das musikalische Erbe einer weit zurückliegenden, den zeitgenössischen Kulturangehörigen möglicherweise nicht einmal mehr bewussten Missionierung. Gerade auf diesem Gebiet der unterschiedlichen musikalischen Auswirkungen der Missionsgeschichte hat die mit vielen brasilianischen Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Jahren unternommene Arbeit von Herrn Dr. Bispo eine Fülle wertvoller Erkenntnisse zusammentragen können. Ich denke da z.B. an seine große Arbeit über die Grundlagen christlicher Musikkultur in der außereuropäischen Welt der Neuzeit: Der Raum des früheren portugiesischen Patronatsrechts oder die wichtigen Forschungen über die Musikkultur der Indianer Brasiliens. Das bedeutet, dass wir uns in der Erforschung indigener Musiktraditionen immer bewusst sein müssen, dass wir uns zumeist nicht in einer „Stunde Null“ der Inkulturation des christlichen Glaubens befinden. Das bedeutet letztendlich, dass die Aufgaben hymnologischer und musikethnologischer Forschung vielfach ineinandergreifen.
2. Die kulturelle Perspektive: Wenn von den Völkern der Welt die Rede ist, sprechen die Texte des II. Vatikanischen Konzils von gentes und meinen hiermit im Wesentlichen dasjenige Gruppenkonzept, das in der Völkerkunde meist als Ethnie bezeichnet wird. Die meisten Nationalstaaten der Erde, deren Grenzen zugleich auch den Zuständigkeitsbereich von Bischofskonferenzen markieren, sind jedoch multi-ethnische Gebilde, in denen nicht selten außer der Verkehrssprache der ehemaligen Kolonialverwaltung keine gemeinsame und verbindliche, d.h. alle Menschen dieses politischen Gebildes verbindende Sprache gesprochen wird, und demnach auch keine allen gemeinsame Art des musikalischen Ausdrucks existiert. Damit liegt die fundamentale Problematik volkssprachlichen Betens und Singens unmittelbar auf der Hand, mit der wir uns angesichts der Auswirkungen von „Globalisierung“ künftig intensiver werden auseinandersetzen müssen: Wie mir ein katholischer Pfarrer auf der indonesischen Insel Java einmal sagte: „Wie kann ich in der Liturgie javanisch beten und singen, wenn ein beträchtlicher Teil meiner Gemeinde diese Sprache nicht versteht und auch keinen Zugang zu dieser Musik hat?“ Mag es in ländlichen Regionen vielerorts noch durchaus stabile ethnische Gemeinschaften und Grundstrukturen geben, in den meisten Städten zeigt sich allenthalben in fortschreitendem Maße eine vollständige Auflösung einer an die ethnische Herkunft geknüpften kulturellen Homogenität, ja man erkennt in zunehmendem Grade, dass diese kulturelle Homogenität ein vielfach dem Wunschdenken entsprungenes Konstrukt der Wissenschaft und der Politik ist. Und dieser Prozess wird sich angesichts der globalen Informations- und Kommunikationsmedien und als Folge zunehmender Mobilität und Migration der Menschen (ob erzwungen oder freiwillig) in Zukunft eher verstärken. Werden wir daher, wie es viele Ethnologen bereits heute getan haben, das Konzept der Ethnie als nicht mehr adäquat und der Wirklichkeit entsprechend völlig aufgeben müssen? Können wir dann andere Gruppenbildungen als Ansatzpunkte für eine wirklichkeitsnahe musikethnologische Forschung erkennen, oder bleibt allein die vielschichtige und je nach Lebenskontext variable musikalische Identität des Individuums, der „Anthropos“, als Bezugskategorie unserer Forschung?
Es liegt mir fern, diese Fragen im Sinne einer pessimistischen Kulturkritik verstanden zu wissen. Wollen wir jedoch unsere Augen vor den rapiden weltumspannenden kulturellen Veränderungsprozessen nicht verschließen, so werden diese Fragestellungen unsere künftige Arbeit in erheblichem Maße bestimmen.